Bruno Sattler hat sich durch halb Europa gemordet.
Seit 1931 in der NSDAP, war der spätere Gestapo-Chef von Belgrad in die
heimtückische Erschießung des Kommunisten John Scheer verwickelt, ließ
deutsche EmigrantInnen...
...in Paris verhaften, in Smolensk
Partisanen und Roma ermorden, in Belgrad – 1942, als seine Tochter geboren
wurde – 8500 Juden vergasen und "Geiseln" erschießen, in Wien und Ungarn
Todesmärsche organisieren.
Er ist schuldig am Tod von weit mehr
als Zehntausend Menschen. Wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" wurde
er 1947 in der DDR zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und
starb 1972 in der Haft.
Mörder-Vater, Täter-Mutter
Beate Niemann, seine dritte, 1942 in Berlin
geborene Tochter, glaubte über 50 Jahre an die Unschuld ihres Vaters,
sie kämpfte für seine Freilassung und nach seinem Tod für seine
Rehabilitierung. Gekannt hatte sie in eigentlich nur aus der Familiensaga
und von wenigen kurzen Besuchen im Gefängnis. Er war ihr zu Unrecht
verurteilter Held. Erst in den 1990er Jahre mit dem Zugang zu Stasi-Akten
und internationalen Archiven hatte sie schmerzhaft erkennen müssen, dass ihr
Vater alles andere als ein Opfer war. Er war ein Massenmörder. Ihre Suche
nach Unschuld kehrte sich um in die Sache nach Schuld. Ihre fast obsessive
Recherche, die ständig neue schockierende Details hervorgebracht hatte,
verarbeitete Yoash Tatari in dem Dokumentarfilm "Der gute Vater – eine
Tochter klagt an" (2003) und Niemann selbst in einem eigenen Buch: "Mein
guter Vater. Eine Täterbiographie" (Hentrich & Hentrich, 2005).
Nun
hat Beate Niemann ein neues Buch veröffentlicht: "Ich lasse das Vergessen
nicht zu". Flankiert von Texten ihrer Tochter ("Ich bin eine
`Viertel-Mörderin‘"), einer Cousine und Wegbegleitern, beschreibt sie das
Echo, das ihr "Outing" hinterlassen hat, sei es in den vielen Briefen, die
sie bekam, in Begegnungen mit Opfern, mit ZeitzeugInnen oder SchülerInnen.
Denn Niemann geht offensiv mit ihrem "Erbe" um, sie sucht die Begegnung
und den Austausch. Ein ständiger Kampf mit all den Gefühlen, die sie
selbst und ihre jeweiligen Gegenüber mit den vielen Facetten des Falls
Sattler haben. Sie verschweigt nicht die kritischen Stimmen, die ihr
"Nabelschau", "Nestbeschmutzung" oder Wichtigtuerei vorwerfen,
und schildert eindrücklich das, was ihr Mut macht. Unter anderem waren das
die Treffen mit Schoa-Überlebenden und Nachkommen in Belgrad, wo ihr Vater
so schrecklich gewütet hatte. Sie erzählt von ihren Bedenken, ihrer Angst
vor den Reaktionen, aber auch über das positive, manchmal überwältigend
herzliche Echo und die große
Resonanz, die der Film und ihr Buch ausgelöst haben.
Zugleich schaut Niemann auf die Ereignisse, die sie geformt, die ihr
Leben ausgemacht haben – Abbruch der Schule ein Jahr vor dem Abitur,
Abendschule, Ausbildung als Kinderpflegerin, Auslandskorrespondentin und
Krankengymnastin, ihre Arbeit bei Amnesty International, die Demonstrationen
gegen den Schah 1967, das Attentat auf Rudi Dutschke, das soziale Engagement
während ihrer Jahre in Indien, endlich die Rückkehr nach Deutschland und der
Beginn ihrer Suche nach dem echten Bruno Sattler...
Zu der
Bestandsaufnahme gehört jedoch nicht nur ihr Vater und das Schweigen oder
Schönreden über ihn, sondern auch ihre Mutter. "Ich habe früh
entschieden, nicht so werden zu wollen, wie meine Mutter", schreibt sie,
"Mein abwesender Vater war meine Lichtgestalt... Spät in meinem
Leben musste ich bitter lernen, dass mein Vater ein überzeugter Nazi-Mörder
war, meine Mutter die NS-Täterin an seiner Seite."
Niemanns Mutter, 1904 in einer ArbeiterInnenfamilie geboren,
hatte ihren späteren Ehemann Bruno Sattler kennengelernt, als sie beim
Verteilen von KPD-Flugblättern verhaftet und von ihm verhört worden war.
"Wie sie den politischen Wechsel der Weltanschauungen für sich vollzog, ist
ein für mich nicht zu lösendes Rätsel", schreibt die Tochter. Sie belegt
episodenhaft, wie ihre Mutter sie als Kind benutzt hat, wie sie ihre Tochter
verletzt und gedemütigt, sie wider besseren Wissens immer wieder über den
Vater belogen hat. Die wohl grausamste Wahrheit über ihre Mutter hat Beate
Niemann erst nach deren Tod erfahren: Das Haus in Berlin-Tempelhof, in dem
sie geboren wurde, hatten ihre Eltern der jüdischen Vorbesitzerin Frau Leon
abgekauft – so die Familiensaga. Zu der Mär der Mutter hatte auch gehört,
dass sie selbst die hochschwangere Frau Leon über die Schweizer Grenze in
Sicherheit gebracht habe. Für Beate Niemann war das über Jahre der Beweis
für die "Heldenhaftigkeit" ihrer Mutter. Doch dann findet sie eine
Postkarte, datiert drei Tage nach ihrer Geburt, auf der diese Mutter, die
"Retterin", ihrem Mann nach Belgrad schreibt: "...Die Leon kommt am
20.6. auf Transport nach dem Osten". Heute weiß Niemann, dass ihre
Eltern Frau Leon erpresst haben, ihnen das Haus für einen Spottpreis zu
verkaufen; als Gegenleistung wurde ihr versichert, dass sie für mindestens
ein Jahr von der Deportation zurückgestellt wird. Zwei Wochen nach dem
Abschluss des Kaufvertrages wurde Gertrud Leon von der Gestapo abgeholt,
nach Theresienstadt geschickt und später in Auschwitz ermordet...
Die
Geschichte ihrer Familie, die allgemeine Blindheit und das Wegsehen im
Nachkriegsdeutschland verknüpft Beate Niemann zuletzt auch mit aktuellen
Auswüchsen der Gesellschaft, mit Pegida, AfD und Co, die mit
Desinformation, Ignoranz und Hass dem Anderen, dem "Fremden" gegenüber
Stimmung machen, sei er "Flüchtling", dunkelhäutig oder Jude. Niemanns
Arbeit ist ein Baustein gegen Geschichtsklitterung und für ein
"kosmopolitisches" Engagement, so wie es ihr von ihren WegbegleiterInnen
bescheinigt wird, und wie es dieses Büchlein dokumentiert, das auf die
Initiative der Verlegerin des jüdischen Lichtig Verlags, Nea Weissberg,
zustande kam. Die wollte wissen, wer diese Beate Niemann ist, diese
Deutsche, die so konsequent und schonungslos den NS-Verstrickungen der
eigenen Familie gefolgt war und den Mut hatte, sich den damit einhergehenden
Loyalitätskonflikte zu stellen und den Gegenwind, der ihr entgegenschlug,
auszuhalten.
AVIVA-Tipp: "Chapeau", schreibt Nea Weissberg. Das ist
wohl das richtige Wort
Zu bestellen:
Lichtig-Verlag, Berlin 2017
ISBN: 978-3-929905-38-0
112 Seiten
Preis: EUR 14,90
Zu beziehen über den
Lichtig-Verlag oder den Buchhandel.
Bestellung zzgl. Porto und Versand (Inland/Ausland).
Sammel-Bestellformular
Fax-Bestellformular
[pdf]
Diese Seite
drucken