Nach Ende des Krieges entstand 1945 in der
polnischen Region Niederschlesien für wenige Jahre eine "jüdische Republik":
mit eigener Verwaltung, eigenen Parteien und Jiddisch als Verkehrssprache.
Das Buch "Umgeben von Hass und Mitgefühl" behandelt dieses fast vergessene
Kapitel.
Fast wirkt es wie ein Wunder: Unmittelbar nach dem
Ende des Zweiten Weltkriegs kam es im nun polnischen Niederschlesien zu
einer kurzen Renaissance jüdischen Lebens. Diese Wiedergeburt konzentrierte
sich rund um die Kleinstadt Dzierzoniow.
"Und ich stellte fest,
dass diese Kleinstadt eine außerordentlich interessante Geschichte nach dem
Krieg gehabt hat: Sie wurde zu einem Zentrum des Aufblühens eines neuen
jüdischen Lebens in Polen nach dem Krieg. Das war natürlich sehr
verwunderlich, weil nur Rudimente der jüdischen Bevölkerung geblieben sind.
Also es waren vor dem Krieg 3,5 Millionen etwa Juden, die in Polen gelebt
haben. Nach dem Krieg schätzt man die Anzahl, die Gesamtanzahl auf etwa
300.000 – also weniger als zehn Prozent sind übrig geblieben."
Umso erstaunlicher ist es, was direkt nach dem Krieg rund um Dzierzoniow
passierte. Gabriel Berger hat ein Buch über jene Zeit geschrieben, das unter
dem Titel "Umgeben von Hass und Mitgefühl. Jüdische Autonomie in Polen nach
der Shoah 1945-1949 und die Hintergründe ihres Scheiterns" erschienen ist.
Berger beschreibt darin, wie für eine kurze Episode die Schaffung einer fast
schon "jüdischen Republik" gelang mit eigener Verwaltung, eigenen
politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen und Jiddisch als
Verkehrssprache.
Buchzitat: "Hier sollten die Juden, die den
Horror der Naziverfolgung überlebt hatten oder aus der bedrohlichen
Ungewissheit in der Sowjetunion zurückkehrten, einen sicheren Platz finden,
an dem sie in Ruhe leben, arbeiten und ihre jüdische Tradition und jiddische
Sprache pflegen konnten. Nach Jahren brutaler Erniedrigung durch die Nazis,
die ihnen das Menschsein aberkannt hatten, und der permanenten Angst um ihr
eigenes Leben und das ihrer Angehörigen, würden sie hier ihre Selbstachtung
wiedergewinnen und sich mit Stolz dazu bekennen können, Juden zu sein."
Die Idee zu diesem Projekt ging maßgeblich von dem jüdisch-polnischen Politiker Jakob Egit aus. Er stellte sich damit deutlich gegen das zionistische Ziel der Ansiedlung im damaligen Palästina. Als "jiddischen Jischuv" bezeichnete er sein Experiment.
Gabriel Berger: "Jischuv ist eigentlich ein Begriff, der reserviert ist für die Ansiedlung von Juden in Palästina und er hat eben den Begriff Jischuv kreiert, weil er meinte, es bekanntermaßen in Palästina, also in Israel, hat man sich entschlossen, gerade auf das Jiddisch zu verzichten, und Hebräisch als Kommunikations- und offizielle Sprache einzuführen. Und er beharrte darauf, dass Jiddisch die Kommunikationssprache sein soll. Deswegen hat er auch die Gemeinschaft der Juden, die in Polen aufgebaut wurde, als 'jiddischen Jischuv' bezeichnet."
Dieser jiddische Jischuv war zunächst sehr erfolgreich. Von der neuen kommunistischen Staatsmacht unterstützt gedieh das jüdische Leben. Doch das Wunder von Dzierzoniow, das Jakob Egit geschaffen hatte, erfuhr nur eine kurze Blüte von knapp vier Jahren. Pogromartige antisemitische Ausschreitungen führten zur panikartigen Flucht vieler Juden aus Polen. Der judenfeindlich aufgeladene Nationalismus sowie die durch Stalin initiierte antisemitische Welle im gesamten sozialistischen Ostblock taten ihr übriges. Lange Zeit wollte Jakob Egit das nicht wahrhaben. Erst, als er selbst zum Staatsfeind erklärt wurde, verließ er 1957 das Land.
Sprecher Buchzitat: "Nun wusste es Egit endgültig: Das Konzept einer
jüdischen Identität im sozialistischen Polen war gescheitert. Er war ein
gebrochener . In Polen sah er für sich keine Perspektive. Ihm blieb nichts
anderes übrig als nach Israel zu emigrieren."
Statt nach Israel ging Egit schließlich nach Kanada. Bitter enttäuscht von
seinen Erfahrungen in Polen vollzog er hier eine drastische Kehrtwende, wie
Autor Berger ihn zitiert:
"Dass er gewirkt hat sehr lange zum Schaden der Juden und sie mögen ihm das verzeihen. Und als Kompensation hat er sich die letzten Jahrzehnte seines Lebens, als er in Kanada inzwischen gelebt hat, der Hilfe für Israel gewidmet."
Für Gabriel Berger lassen sich die Geschehnisse im polnischen Niederschlesien nach dem Krieg nur verstehen, wenn man die antisemitische Stimmung sowie das Maß der Kollaboration vieler Polen mit den Deutschen kenne – beides historische Tatsachen, die zum einen selbst im heutigen Polen nicht gerne in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Und die zum anderen die kurze Zeit der jüdischen Republik umso bemerkenswerter machen.
Eben jene erweckt Berger mit seinem Buch kenntnisreich und spannend zum Leben – ein vergessenes Kapitel jüdischer Geschichte in Polen, das sich zu entdecken lohnt.
Zu bestellen:
Lichtig-Verlag, Berlin 2016
ISBN: 978-3-929905-36-6
200 Seiten
Preis: EUR 14,90 + Versandkosten
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