Mit Beiträgen von der Autorin Halina Birenbaum, der Psychologin Hella Goldfein, dem Psycholgen Jürgen Müller-Hohagen, dem Oberrabbiner Polens Michael Schudrich, dem Psychologen Jarosław Gliszczyński sowie dem Schriftsteller Gabriel Berger.
Die Briefroman „Das Glück hat mich umarmt“ ist eine wunderbare, höchst sensitive und gleichzeitig erschütternde Erzählung, die uns Lesende den Lebensweg einer außergewöhnlichen Frau in der Ich-Perspektive darlegt. Einem Brieffreund erzählt sie ihre Kindheit im Umfeld der Jüdischen Gemeinde Berlins, in einer Familie, in der die Familien der Eltern ermordet und deren Kultur in der Shoa vernichtet wurde. In das bourgeoise Leben, das die Erzählerin unterhaltsam und mit kennerischem Blick beschreibt, schleichen sich die verunsichernden und schmerzhaften Momente mit den Eltern ein: „Keine Fragen stellen, Fragen sind gefährlich, Fragen bringen Seufzer, traurige Gesichter, einen Ausdruck der Abwendung, der Einsamkeit. Schweigen. Keine Gespräche, besser nicht. Warum sind sie traurig?“
Dies sind Fragen, welche die schreibende Frau sich stellt, als sie noch ein
Kind war. Im Laufe ihrer Kindheit erlangt sie Wissen über das, was die
Eltern durchlebt haben. Sie versteht erst nach und nach, warum die Mutter
ihr niemals nahe kommen konnte, warum es kein zärtliches In-den-Arm-Nehmen
gibt, kein Gefühl der Geborgenheit und gleichzeitig der Freiheit gab. Die
Eltern wollen die Kinder nie allein wissen, tun alles, um sie beschützt zu
wissen, wo diese sich doch danach sehnen, allein der Neugier nach fremden
Umgebungen, nach Jungs und Diskotheken nachzugehen.
Während einerseits herrliche Geschichten von Ferien, Geschwisterliebe
und Geschwisterstreit erzählt wird, vom ersten Händchenhalten, von
festlichen Momenten der jüdischen Feiertage, wird zeitgleich entfaltet, was
es bedeutet, Zweite Generation, also ein Kind von Holocaustüberlebenden zu
sein. Die Perspektive dabei ist stets intim, persönlich und damit stark
geprägt von schmerzhaften Situationen, die nichtsdestoweniger von einem
einfühlsamen und liebevollen Blick auf die Welt und das Menschsein
charakterisiert ist. Die Protagonistin bleibt jedoch nicht bei der Erzählung
ihrer Kindheit: Sie nimmt uns mit in ihre Erwachsenenleben, erzählt von
ihrer Hochzeit, ihrer Ehe und lässt dabei den Lesenden fast in sich selbst
hineinschlüpfen, so nah kommt man der Protagonistin. Mit ihrem Lebensweg
kommt ein weiteres zentrales Thema des Buches auf: die geliebte Tochter der
Protagonistin, entwickelt sich langsam, zu langsam. Erst nach und nach – so
wie die Mutter selbst versteht man, dass das kleine Mädchen ein Mädchen mit
Autismus ist. Auch hier wird eine sehr intime und zu oft tabuisierte
Perspektive eröffnet, welche die Gefühle, Zweifel, Ängste der Mutter
thematisiert. In diesem Buch geht es um vieles Tabus, um das Nicht-Sagbare
und das Nicht-Fragbare. Während diese Stimmung gerade in den ersten Teilen
des Buches präsent ist, löst diese sich zunehmend auf, denn wir Lesenden
erfahren die Geschichte der Eltern, ihrer Verwandten und der Erzählenden
gelingt es sogar in einer Gruppe, bestehend aus Juden und Nichtjuden, die
Gedenkstätten Auschwitz und Birkenau zu besuchen.
In einem Nachtrag wird das Geschriebene psychologisch reflektiert – die Ebene verschiebt sich von einer literarischen zu einer sachlichen und hilft dem Lesenden, das Erzählte in einen größeren zeitgeschichtlichen Kontext einzuordnen. Halina Birenbaums Kommentar, die selbst Shoaüberlebende und Autorin zahlreicher Bücher ist, ist dabei entscheidend. Ein ausführliches Glossar erläutert Begriffe aus der jüdischen Tradition und macht damit die Geschichte auch für diejenigen zugänglich, denen dieses Gebiet noch unbekanntes Terrain ist.
Der Text changiert zwischen Romanerzählung und historischer Autobiografie, ist gekennzeichnet durch eine feine, schlichte Sprache, ist eine Geschichte voller wunderbarer Erinnerungen, die jüdisches Leben im West-Berlin der 60er und 70er Jahre beleuchtet. Doch diese Geschichte ist nicht ohne die Schwere der Traumata der Überlebenden und deren Folgen auf die Nachkommen zu denken, ohne die unangenehmen Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Nichtjuden und den Verdrängungen und Verleugnungen auf deren Seite. Der Autorin ist ein besonderes Werk gelungen, denn alle diese komplexen Dimensionen des Historischen, Politischen und Privaten, Intimen finden ihren Raum und machen damit Geschichte und die Wirkung von Geschichte verständlich.
Nachtrag:
Die soeben im Lichtig Verlag erschienene polnische Version des Buches hat
den Titel: „Gorzki smak szczęścia.
Powieść w listach.“ Sie ist um Beiträge des Oberrabbiners Polens Michael
Schudrich, des Psychologen Jarosław Gliszczyński sowie des Schriftstellers
Gabriel Berger erweitert worden.
Lichtig-Verlag, Berlin 2015
ISBN: 978-3-929905-32-8
Preis: PLN 40,- / EUR 10,-
Zu beziehen über den
Lichtig-Verlag oder den Buchhandel.
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