Das hat es noch nicht gegeben: Bücher über esoterische Phänomene sind meist entweder sektenartig-gläubige Editionen oder wissenschaftliche Verurteilungen. Es gibt bisher keine Einblicke in die eigentliche Praxis, von wenigen literarischen Beschreibungen abgesehen (z.B. Thomas Mann, "Okkulte Erlebnisse", 1924). Außerdem hat sich die Szene seit dem letzten Jahrhundert gewandelt. Der „Lichtig-Verlag“ steht sonst für jüdische Themen, für Biografisches, für Aufarbeitung der Vergangenheit und politische Fragen der Gegenwart. Es ist schon überraschend, auf seiner Seite plötzlich dieses Buch präsentiert zu sehen, mit einem Photo eines goldenen Rubin-Ringes in Schlangenform und dem Untertitel: Einblicke in Zukunftsdeutungen. Als mein Vater im Jahr 2008 sehr krank wurde und kein Arzt etwas tun konnte (vielleicht nach dem Motto: er ist doch eh schon 77 alt…), warf ich Stück für Stück meine rationalen Prinzipien über Bord, um doch noch weitere Möglichkeiten zu finden, ihn zu heilen. „Traditionelle Chinesische Medizin“ leerte unsere Konten – und half aber nicht. Wasser, das „lebendig“ ist – und teuer – probierten wir aus; jemand sagte, dass eigentlich Leinöl alles heilen kann, andere legten Hände auf oder sendeten „Energie“. Die Angebote häuften sich und ich war bereit, es zu versuchen, weil es ja ohnehin keine Chance der Heilung zu geben schien. Da ich an „Wunder“ nicht glaube, konnten die Wunderheiler im Gegenzug auch nicht schädlich sein – am Geld sollte es jedenfalls nicht scheitern! Wenn dann etwas „Esoterisches“ hilft, wäre das überraschend und erfreulich. Und bedenkenswert. Dennoch, meinem Vater hatte nichts davon geholfen. Insgeheim glauben fast alle Menschen an unerklärliche Kräfte, einfach weil vieles eben unerklärlich ist... Wir belächeln das Horoskop in der Zeitung, denken aber still: Genau! Ich bin ein echter Löwe! Ja, wir möchten glauben, weil dann die Gemeinheiten der Welt einen Sinn zu bekommen scheinen. Wir möchten dabei nur nicht dumm wirken. Richtig wichtig wird das alles aber erst, wenn wir verzweifelt sind. Dann geben wir 100 Euro aus für eine Flasche voll Luft, überspringen ein Jahr Psychotherapie für die schnelleren Ergebnisse einer „Channeling“-Sitzung, doppelt so teuer. Und ja, wir wissen das alles, aber vielleicht… vielleicht geschieht ja doch ein Wunder! Evelyn Köhler und Malka Mandelblatt haben es ausprobiert – ohne Notsituation, ohne Erwartung, einfach als Journalistinnen. Sie wollten herausfinden, was dran ist an den Wundern, den Deutungen, dem Hellsehen. In Ermangelung einer wissenschaftlichen Untersuchungsmethode haben sie Termine gemacht. Sich beraten lassen – und beobachtet, was jeweils geschieht. Sie haben Erfahrungsberichte ausgewertet und, Interviews notiert und manche Hexen oder Heiler ihre Geschichte erzählen lassen. So geriet diese einzigartige Reportage zu einer Informationshilfe für Suchende. Am Ende kann sich der Leser selbst fragen: Lohnt sich das, hat so etwas Sinn für mich? Anders als bei den großen Religionen, liegt dem Kartenlegen, dem Handauflegen, dem Sternedeuten kein einheitliches Gedankensystem zugrunde, hier existieren die verschiedensten Richtungen friedlich nebeneinander, eine „geschäftliche“ Konkurrenz natürlich nicht ausgeschlossen. In der Bibel, bei Moshe (5, 18), steht: „Dass nicht unter dir gesehen werde, der seinen Sohn oder Tochter durchs Feuer gehen lasse oder ein Weissager oder ein Tagewähler oder der auf Vogelgeschrei achte, oder ein Zauberer, oder Beschwörer oder Wahrsager oder Zeichendeuter, oder der die Toten frage. Denn wer solches tut, der ist dem Ewigen ein Gräuel, und um solcher Gräuel willen vertreibt sie der Ewige vor dir her.“ Aber ohne Angst vor falschen Göttern, ganz pragmatisch, findet sich ein Merksatz in diesem spannenden Buch, der gleichsam als eine sanfte Neuinterpretation der alten Sätze gelten kann: „Orakelbefragungen erfassen Chancen – Irrtum inbegriffen.“
Wenn das Geld im Mittelpunkt steht, an der TV-Hotline Zeit geschunden werden
muss, Menschen in Angst und Schrecken versetzt werden, damit sie von der
„Hilfe“ abhängig werden, wird auch die Gefahr deutlich, der sich Ratsuchende
mitunter aussetzen. Ziemlich bald, auf Seite 18, werden denn auch 11 Punkte
genannt, die Unerfahrenen ermöglichen, unlautere Hellseher oder Heiler zu
erkennen, z.B. „ein seriöser Hellseher wird Sie nicht immerfort zu neuen
Sitzungen bestellen.“ Oft fragen Köhler oder Mandelblatt später nach: ist
die Prophezeiung eingetreten? Kam es so, wie gewünscht und angekündigt? Dann
ist die Antwort manchmal lakonisch: Nein, es ist nicht eingetroffen, ganz im
Gegenteil. Es ist interessant, den Protagonisten „über die Schulter“ schauen
zu dürfen; einige werden in dem Buch direkt entlarvt als Scharlatane,
anderen wird eine erstaunliche Einfühlsamkeit attestiert und „Wunder“
bleiben ohnehin prinzipiell möglich. Die Übergänge sind fließend,
Gutgläubigkeit wird nicht nur von Kunden erwartet, sondern durchaus auch von
den Ausführenden geteilt. Am Ende des Buches kann man gar verschiedene
Kartendeckbeschreibungen studieren, Lebenswege interpretieren, Zukunftswege
erkennen. Ein ganzes Lenormand-Karten-Deck aus dem 19. Jahrhundert ist
abgebildet, wie überhaupt sehr gute Bilder den liebevoll gestalteten Text
begleiten. Bei aller kritischen Betrachtung des Gegenstandes wird deutlich:
die schönste Möglichkeit ist, wenn alle Beteiligten sich nach so einer
Sitzung gut fühlen können. Wer Hilfe gesucht hat, geht mit Trost von dannen
und der Hexer bzw. die Astrologin bleiben mit dem Wissen, etwas Gutes getan
zu haben, zurück. Letztlich haben sie sich gemeinsam dem Schicksal eines
Menschen zugewandt.
Evelyn Köhler &
Malka Mandelblatt: Magie und Wirklichkeit.
Einblicke in Zukunftsdeutungen.
Herausgegeben von Nea Weissberg
Lichtig-Verlag, Berlin 2013
ISBN: 978-3-929905-29-8
Preis: EUR 14,90 / 128 Seiten, 4 S/W- und 60 Farbabbildungen
Zu beziehen über den
Lichtig-Verlag oder den Buchhandel.
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