Um sofort das Wichtigste zu sagen: Ich empfehle dieses Buch
dringend und uneingeschränkt. Ganz besonders gilt dies in Richtung von
Lehrerinnen und Lehrern, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu tun
haben. Aber auch sonst ist es ein wichtiger Lesestoff für möglichst viele
Menschen in Deutschland.
Nur: Wie ist diese Botschaft zu vermitteln angesichts der Tatsache, dass es sich
um ein Buch von geschlagenen 623 Seiten handelt? Wer soll das alles lesen? Und
dann noch ein Titel, der erst einmal zurückzucken lässt: Sisyphos. Das klingt
anstrengend und hört sich nach ziemlich viel erfolgloser Arbeit an. Und das in
einer Zeit, in der schneller Erfolg fast alles ist. Sisyphos, das war doch
damals bei den alten Griechen dieser Mann mit dem Stein, den er immer wieder
sinnlos den Berg hoch schleppte, der damit einfach nicht aufhören konnte? Was
soll das heute? Wir haben doch anderes zu tun! Also, was will die Autorin uns
mit so einem Titel sagen?
Genau das. Es gibt Leute, die schleppen und schleppen. Und andere, die, wenn
überhaupt, manchmal zuschauen. Die vielleicht einen Kommentar fallen lassen: Es
ist doch allmählich genug, das mit dem Stein. Den muss man auch mal hinter sich
lassen können. Nach vorne schauen. Daraus entsteht leicht eine intensive
Dynamik. Die Schleppenden fühlen sich allein gelassen und unverstanden. Wir
machen es doch auch für Euch, versuchen sie zu rufen. Die Zuschauenden zucken
zusammen, hatten vielleicht bereits vorher ein schlechtes Gewissen, zumindest im
Ansatz. Das trägt allerdings nicht unbedingt zur Verständigung bei, unter
Umständen sogar im Gegenteil. Dann schimpfen sie auf die mit dem Stein. Und die
wiederum igeln sich ein und schleppen weiter. Schwierig. Wenn dieses Buch nun im
Lichtig Verlag erschienen ist, der sich als Berlins jüdischen Verlag bezeichnet,
ja, dann ist klar, um was es hier mit dem Stein geht: Das ist das jüdische
Thema. Klar. Am Holocaust tragen sie schwer. Das verstehen wir anderen
mittlerweile. Dann wird diese Karin Weimann also Jüdin sein? Was findet sich
darüber?
Auf der Rückseite steht einiges zur Person, das allerdings nicht. Das
„Wichtigste“ für die schnelle Orientierung fehlt. Also ein Blick in das Vorwort.
„Das Buch ist eine Herausforderung. Eine Zumutung“, so beginnt auf Seite 9 die
Einleitung von Szabine Adamek. Aha, eine Zumutung. Aber nichts Klares zur
Identität der Autorin. Doch dann, in deren eigenem Vorwort kommt etwas auf Seite
15, allerdings ziemlich ungemütlich: „Das von uns angestrebte Gedenken ist
Ausdruck unseres Willens, als Nachkommen einer schuldig gewordenen Gesellschaft
in die VerANTWORTUNG zu gehen.“ Ich breche den möglichen inneren Monolog, der
sich beim Betrachten dieses Buches einstellen könnte, hier ab. Mit ihm habe ich
ein wenig von dem in Worte zu bringen versucht, was nach so manchen Erfahrungen
– auch mit mir selber – in uns Nachkommen der ehemaligen Volksgenossen
untergründig ablaufen kann, wenn wir in einer eigentümlichen Mischung von
Wahrheitssuche und Verfälschung meinen, es mit „dem jüdischen Thema“ zu tun zu
haben. Mir selber ist verschiedentlich von wohlmeinenden Leuten Anerkennung
gezollt worden, dass ich mich seit so langer Zeit, mittlerweile sind es dreißig
Jahre, mit diesem „jüdischen Thema“ befassen würde. Und sicherlich wäre ich auch
schon oft in Israel gewesen. Dem stelle ich dann „das deutsche Thema“ gegenüber,
die Beteiligung unserer Vorfahren am Massenmord – und dessen vielfältige
Wirkungen bis zu uns Nachkommen von heute. Beide Themen müssen getrennt gesehen
werden, hängen aber untrennbar zusammen.
Genau darum geht es in diesem Buch. Weil aber nach meiner Erfahrung so viele von
uns weite Bögen darum machen, werbe ich eindringlich: Schlagen Sie das Buch auf,
irgendwo, niemand zwingt Sie, es von vorne bis hinten zu lesen, fangen Sie
vielleicht im Anhang an, blättern es quer durch, und ich bin sicher, da wird Sie
etwas erreichen von der hier versammelten großen Vielfalt an klaren Aktionen und
Einsichten.
Dass es um Gedenken geht im Rahmen einer Schule, der Ruth-Cohn-Fachoberschule
und -Fachschule in Berlin, das erhellt sich schnell, findet sich ja auch im
Untertitel. Aber was seit 1997 da alles stattgefunden hat jeweils am 27. Januar,
das ist atemberaubend. Dokumentiert ist der Zeitraum bis 2010, und es geht
weiter. So viele Gespräche mit Überlebenden, Angehörigen, Engagierten, so viele
Gastgeberinnen und Gastgeber dafür, so viele Ansprachen fern aller Floskeln und
Rituale. Und so gute Erläuterungen und Literaturangaben, die hilfreich sind, um
mehr in „diese Themen“ hineinzukommen – und um wahrzunehmen, dass eine ganze
Menge von Leuten sich damit schon seit längerem befassen. Nur findet das im
allgemeinen Bewusstsein immer noch nicht den entsprechenden Niederschlag.
Das andere Zentrum sind die Analysen, die Karin Weimann vornimmt. Da geht es um
Bewahren von Erinnerung, um Wahrnehmen, wie schwierige Realitäten weiterhin
durch Sprache verschleiert werden, es wird dargelegt, dass Moral bis heute
massiv attackiert ist durch die NS-Verbrechen, blinde Flecken werden benannt,
„Gewusstlosigkeit“ bewusst gemacht, verschiedene, dabei auch sehr subtile Formen
des Verweigerns von Auseinandersetzung mit der Verbrechensvergangenheit und
ihren vielfältigen Wirkungen analysiert (besonders lesenswert für
NS-Nachgeborene, denen Selbstreflexion wirklich etwas bedeutet). Sehr wichtig
ist dabei, was Weimann über „Komplementarität“ zwischen der Täter- und der
Opferseite schreibt. Damit meint sie die nun einmal durch die Verbrechen
gegebene unaufhebbare Verknüpfung der beiden Seiten, dies auch noch bei den
Nachkommen. Hier besteht erst recht die Verpflichtung für die Nachkommen aus dem
Täterkollektiv, dies überhaupt wahrzunehmen. Denn mit anderen Worten: Das
Verweisen auf „das jüdische Thema“, von dem ich weiter oben etwas flapsig, aber
leider in realistischer Einschätzung landläufiger Denkmuster gesprochen habe,
lenkt ab von der Wahrnehmung „unseres deutschen Themas“. Erst wenn auch
letzteres erfolgt, können wir mit der anderen Seite wirklich in Kontakt kommen,
können wir gemeinsam Wege suchen und finden. Genau das ist es, was dieses Buch
dokumentiert und zur Nachahmung anbietet.
Und so schlage ich Folgendes vor: Schulen mögen einen ganzen Klassensatz oder
noch mehr dieses (mit 21,50 € zudem sehr preiswerten) Buches anschaffen, zuerst
einmal das Kollegium darin so herumlesen lassen, wie ich das oben angeregt habe,
aus der daraus entstehenden, durchaus auch kontroversen Diskussion ein Projekt
entwickeln (auch dafür gibt es viele Anregungen) und dann den Schülerinnen und
Schülern einen Raum eröffnen, was sie mit den 623 Seiten anfangen möchten. Da
bietet sich so viel an, so viele Stimmen können lebendig werden, Ideen
ausgetauscht werden, neue Verbindungen entstehen. Da mag ein nie wieder zu
vergessender Zugang entstehen zu dem für Karin Weimann so wichtigen jüdischen
Widerstandskämpfer Jean Améry und dessen klarsichtigen Texten. Oder der
algerisch-französische Schriftsteller Albert Camus kommt mit seinen
philosophischen Reflexionen ganz nah – und dabei auch der alte Sisyphos-Mythos,
dem er ein Buch widmete und den er in neuer Weise interpretierte: Sisyphos als
Verfluchten, in dessen Macht es nicht lag aufzuhören, der sich dann aber
entschieden hat, seinen Stein zu bejahen. Oder man ist beim Durchblättern der
Veranstaltungen zum ersten Mal darauf gestoßen, dass Jehovas Zeugen, die man
bisher nur belächelt hat, damals verfolgt wurden, und möchte mehr darüber
wissen. Oder Homosexuelle. Oder die Millionen sowjetische Kriegsgefangene, die
ermordet wurden. Und und und. So viele wurden verfolgt.
Also kein von oben verordnetes und gestaltetes Gedenken, sondern Spurensuche in
Eigeninitiative. Dafür bietet dieses Buch reiche Hilfestellungen. Das Gleiche
gilt natürlich auch für die Lektüre im stillen Kämmerlein. Da kann viel an
Nachdenklichkeit entstehen in uns Nachgeborenen der seinerzeitigen Volksgenossen
und viel Stoff gewonnen werden für Weiterentwicklungen, können Blockierungen
abgebaut, neue Beziehungs- und Freiheitsräume gefunden werden. Und für ehemals
Verfolgte und ihre Nachkommen kann es etwas Erleichterndes haben, von diesen
Aktivitäten zu hören. Und für alle zusammen: Das Buch enthält so viele Brücken,
ist selber eine Brücke. Großer Dank an Sisyphos.
Karin Weimann -
Sisyphos’ Erbe.
Von der Möglichkeit schulischen Gedenkens.
Lichtig-Verlag, Berlin 2013
ISBN 978-3-929905-28-1
Preis: EUR 21,50 / 624 Seiten
vergriffen
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