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Holocaust

"Ich musste das Schweigen meiner Mutter verstehen"

Nea Weissberg spürt in ihren Büchern dem jüdischen Leben in Berlin nach

Draußen fällt das Sonnenlicht milchig durch die neblige Winterluft. Drinnen, hinter dem großen Küchenfenster in dem großzügigen Raum mit Blick auf den Garten, sitzen zwei Frauen an einem Tisch. Sie kennen sich nicht, Jahrzehnte trennen sie, Lebenserfahrung sowieso. Doch in diesem einen Moment sind die beiden sich nah, und die Besucherin erlebt etwas Besonderes. Die andere ist sich dessen gar nicht bewusst. Sie singt. Die Stimme füllt den Raum, pur und warm. Sonst ist es still. Es ist ein jiddisches Lied, das sie singt. Ihre Mutter hat es ihr vorgesungen, sie singt es sonst für ihre Tochter. Der Gesang fühlt sich an wie eine Umarmung. Viele hätten sich nicht getraut, hätten diesen geradezu intimen Moment nicht geteilt. Ein Glück, dass Nea Weissberg anders ist. Vieles in ihrem Leben ist anders. Wobei sie das Wort sicher nicht mag. Zumindest nicht in diesem Zusammenhang. Nea Weissberg wurde am 17. Dezember 1951 in Berlin geboren. Zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Rachel kam sie als Tochter polnischer Juden in Deutschland auf die Welt. Heute ist sie Buchautorin und hat ihren eigenen kleinen Verlag. Schreibt und verlegt Bücher, die sich mit der gesellschaftspolitischen jüdischen Gegenwart befassen und mit den Auswirkungen des Holocaust und des Dritten Reiches auf die Nachkommen beider Seiten.

In der Familie herrschte Trauer

"Ich schreibe für alle, die sich politisch engagieren. Und ich schreibe auch für mich. Immer mit dem Wunsch nach Kommunikation", sagt Nea Weissberg, die gerade ihren 61. Geburtstag gefeiert hat. Das, was sie heute tut, steht am Ende eines langen Weges, der früh begann. "Meine Kindheit war geprägt von Schweigen und Trauer. Meine Eltern hatten 120 Familienmitglieder durch den Holocaust verloren, das lastete schwer auf ihnen und somit unbewusst auf uns Kindern", sagt Nea Weissberg. "In unserem Alltag waren wir separiert von der deutschen Mehrheits- gesellschaft. Führten ein geistiges und kulturelles Inselleben in der jüdischen Gemeinde." Mit zwölf Jahren haben Nea und ihre Schwester in der Schule erst Deutsch gelernt. "Als wir sechs Jahre alt waren, wollte meine Mutter uns auf einer deutschen Grundschule anmelden. Doch der Direktor wollte keine jüdischen Kinder an seiner Schule. Also kamen wir auf eine französische Grundschule", sagt Nea Weissberg. Zwar hatten sie ein deutsches Kindermädchen, deswegen verstanden sie Deutsch und konnten es sprechen. "Schreiben konnten wir es nicht." Ihre Eltern sprachen Polnisch oder Jiddisch, erzogen ihre drei Kinder jüdisch-traditionell. "Meine Schwester und ich waren die ersten Mädchen in Berlin, die eine Bat-Mizwa-Feier hatten", sagt Nea Weissberg. Heute bezeichnet sie sich selbst allerdings als eine "Drei-Tage-Jüdin", die nur die hohen Feiertage begeht. "Aber meine jüdische Identität ist mir sehr wichtig." Später studierte Nea Weissberg, wurde Lehrerin und unterrichtete an der Friedensburg-Oberschule in Charlottenburg Deutsch und Französisch. Mit der Geburt ihrer Tochter Janina 1982 änderte sich jedoch alles. "Meine Tochter ist Autistin. Sie spricht nicht. Ihr Schicksal prägte mich stark." Ebenso wie die Vergangenheit ihrer Eltern. Sie sei mit diesem Schweigen aufgewachsen und habe ein Kind bekommen, das auch schweige. "Irgendwann merkte ich, dass ich dieses Schweigen und ständige Seufzen meiner Mutter verstehen muss", sagt Weissberg. Sie habe sich mit psychodramatischen Techniken befasst und an Gruppenarbeit zur Auseinandersetzung mit den Folgen des Dritten Reiches und der Shoah teilgenommen. "1989 begann ich, Gespräche zu führen. Mit Überlebenden, mit Nachkommen beider Seiten", sagt Nea Weissberg. Was sie da sammelte, an Worten, Gedanken, Erinnerungen, das brauchte einen Ort. So gründete sie im September 1993 den Lichtig Verlag, einen Ort für Worte, für Sprache. Einen Ort, der das Gegenteil von Schweigen ist. Lichtig, das bedeutet heller werden.

Schreiben gegen den Hass

"Ich verlege teilweise Bücher über so dunkle Themen, da will ich ins Licht führen, leichter machen", sagt Nea Weissberg. Auch für sich selbst. Im Jahr 2002, als in Deutschland Antisemitismus plötzlich wieder einmal öffentlich wurde, hatte Nea Weissberg erstmals das Gefühl, Deutschland verlassen zu müssen. "Auf mich kam plötzlich ein Hass zu, der mich zutiefst erschüttert hat." Doch Nea Weissberg ging nicht - und schwieg nicht. Innerhalb von zwei Monaten schrieb sie das Buch "Was ich den Juden schon immer mal sagen wollte ...". Das Buch half ihr, vieles zu verarbeiten. "Viele Deutsche haben mir geschrieben, als sie es gelesen hatten, und sie haben mich bestärkt in dem, was ich tue. Ich wusste: Ich kann bleiben." Immer wieder kommen Debatten in Deutschland auf, die Nea Weissberg zeigen, dass sie als Jüdin noch nicht in der Normalität angekommen ist. "Es ist zwar möglich, normal zu leben, aber es kann immer wieder eine Eruption geben. Wie bei der Beschneidungsdiskussion", sagt sie. Und fügt hinzu: "Deutschland hat nicht das Recht dazu, darüber zu entscheiden - diesen Satz erlaube ich mir." Kein Schweigen mehr. Nea Weissberg sagt, was sie zu sagen hat und was ihr wichtig ist. Ob nun gesellschaftspolitisch oder privat.
 

Britta Klar/ Berlin, 04. Januar 2013

erschienen in: Berliner Morgenpost



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