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Nea Weissberg

Nea Weissberg - Mein Interesse für Lene Schneider-Kainer


Indem ich jüdisch lerne, ...Die Autorin und Verlegerin (Lichtig Verlag) ist schon seit einigen Jahren fasziniert von der jüdischen Malerin und Graphikerin, die vor ihrer Emigration im Berlin der zwanziger Jahre wirkte.

Die ersten jüdischen Kalender in Deutschland erschienen im 18. Jahrhundert. Zu jener Zeit konnten die jüdischen Kalender nur mit königlicher Genehmigung erscheinen, sie enthielten in ihrem Kalendarium bereits damals nicht nur Hinweise auf jüdische Feiertage, Schabbatanfang und Wochenabschnitte der Thora, sondern auch auf weltliche Feiertage. Der Jüdische Wandkalender des Lichtig-Verlages stellt sich in diese Tradition und will auch so einen informierenden Beitrag über jüdisches Leben leisten. Dem Kalender gelingt es auch durch die Künstlerbiographien, eine Brücke zwischen damals und heute zu schlagen.

1984 sitze ich beim Friseur in der Hektorstraße in Berlin-Charlottenburg, auf meinem Schoß sitzt meine drei Jahre alte Tochter und kuschelt sich an mich. Die Friseurmeisterin Ingeborg Sobotka fragt mich beim Haare schneiden unvermittelt, ob ich an Kunst einer vergessenen Künstlerin, einer jüdischen Malerin mit Namen Lene Schneider-Kainer interessiert bin. Ihr Mann Axel Sobotka habe auf dem Dachboden seines Vaters ein Konvolut gefunden: Graphiken, Figurenskizzen, Ölbilder, Aquarelle, weibliche Akte, Selbstporträts und Porträts bekannter Persönlichkeiten aus den 1920er Jahren in Berlin und solche aus einer Asienreise. Die Verkaufspreise seien "Freundschaftspreise", geradezu ein Schnäppchen.

Im Nu dreht sich mein Kopfkino-Karussell. Vergessen, gefunden, zurückgelassen, freiwillig und wann? Oder gar von einem Profiteur arisiert? Ich frage nach, wie denn ihr Schwiegervater zu dem Konvolut auf dem Dachboden gekommen sei? Er habe als Architekt ein Haus saniert, das hätte dem Schriftsteller Bernhard Kellermann gehört, der sei seinerzeit ein guter Freund, ein Vertrauter der LSK, der Frau Schneider-Kainer gewesen. Über Ingeborg Sobotka lerne ich 1988 den Kunstlehrer und Galeristen Detlef Gosselck kennen, der das Atelier Bildfang in Berlin-Schöneberg betrieb. Auch bei ihm Zuhause konnten Besucher einige Bilder der LSK bewundern und noch mehr von der Malerin Lou Albert-Lasard (1885-1969). Der Architekt Axel Sobotka blieb mehr im Hintergrund, ebenso wie Gosselck war er zudem ein Maler.

Gosselck erzählte jedem die Geschichte mit den geerbten Bildern der Lou Albert-Lasard, bzw. ihrer Original-Tuschfarben-Palette. 2013 sollte sich diese Geschichte als eine Legende herausstellen, Gosselck, ein enttarnter Kunstfälscher, nahm sich das Leben und entzog sich so der gegen ihn strafrechtlich erhobenen Ermittlung. Der Schock darüber saß tief. Insbesondere weil mich einige Monate vorher der Verleger Thomas Schumann (Edition Memoria) angerufen und bezüglich einer Lithographie von Lou Albert-Lasard um Rat gefragt hatte, die er in der Villa Grisebach erworben hatte. Er rätselte ob des zu hellen kartonartigen verwendeten Papiers, auf das die Farblithographie gedruckt worden war.

In Gosselcks Wohnung hingen Gemälde beider Malerinnen eindrucksvoll an den Altberliner Wänden, eines neben dem anderen und übereinander.

Bei Sobotkas fanden sich die ausdrucksvollsten Graphiken und Ölgemälde der LSK. Zunächst war ich hin- und hergerissen, weil mir der mögliche Profit durch Arisierung nicht aus dem Kopf ging. Doch es fanden sich seriöse Käufer wie Familie Fischer, mittlerweile selbst ein Kunstexperte und Händler, und Familie Schoeps.

1986 kaufte ich ein einzelnes Aquarell, ein Selbstporträt von LSK, das ich später einer Freundin zur Hochzeit schenkte. Die schönsten gemalten Schätze, wie das farbenstarke, expressive Ölbild von Else Lasker-Schüler oder die Bilder aus der Asienexpeditionsreise mit Bernhard Kellermann fanden andere Liebhaber und Käufer. 1998 sollte ich nochmals mit der Malerin Lene Schneider-Kainer zu tun bekommen. Die Kunsthistorikerin Sabine Dahmen saß an ihrer Dissertation über das Leben und Werk von LSK. Sie rief mich an, denn mittlerweile war das private LSK-Fotoalbum in meinen Besitz gekommen, Detlef Gosselck hatte es mir geschenkt. Sabine Dahmen und ich kamen schnell ins Gespräch, daraus entstand mit dem jüdischen Kunstkalender eine Hommage an die Malerin Lene Schneider-Kainer. Die seit 1992 im Lichtig Verlag erscheinende Reihe "Jüdischer literarischer Wandkalender" erinnert im jüdischen Jahr 5759 unter dem Titel "Ich bin eine rastlose Seele" an die österreichische Künstlerin Lene Schneider-Kainer und würdigt ihr facettenreiches Werk.

1999/2000 nahm ich Kontakt mit der Enkelin Gesche Kainer auf und schrieb ihr, dass mich das Leben und das Schicksal ihrer Großmutter sehr interessiert und fragte sie, ob es vielleicht noch andere Menschen gibt, die sich an Lene Schneider-Kainer erinnern und einiges zu erzählen haben. Was ich nicht verstehen konnte, war, dass es keinen Anspruch der Familie auf Rückgabe des Konvoluts gab. Der Wahrheitsgehalt mit der Geschichte des gefundenen Konvoluts auf dem Dachboden ließ sich nicht klären. Mittlerweile können Kunstsammler und Liebhaber ausgewählte Bilder der LSK beim Kunsthandel Wurzer in Wien erwerben, der Geburtsstadt der LSK. Lene Schneider-Kainer war in der Zeit vor ihrer Emigration aus Nazi-Deutschland eine erfolgreiche und von der Kritik geschätzte Künstlerin, die sich über einen langen Zeitraum hinweg auf dem Kunstmarkt behaupten konnte.

Von 1912 bis 1926 lebte sie in Berlin in der Niebuhr Straße in Charlottenburg. Am 12. Januar 1925 schrieb der BILDER COURIER Nr.11, 2. Jahrgang: "Die Malerin eröffnet einen Wäscheladen". Und so entsteht in der Ranke Straße ihr eigener Mode-Kunst-Salon, den sie wie eine Bühne mit ihren Bildern ausschmückt und mit außergewöhnlich exquisiten, farbenprächtigen Stoffmaterialien in feuergelb und feuerrosa drapiert.

Sie war eine kosmopolitisch geprägte Malerin und Graphikerin, die vor allem im Berlin der zwanziger Jahre ein hohes Ansehen genoss, bevor sie 1933 nach Ibiza und nach dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges 1937 nach New York emigrierte und sich zunächst hier und später dann in Bolivien eine neue Existenz aufbaute.

Heute ist ihr Name fast in Vergessenheit geraten. Das Ziel der Nationalsozialisten, die Leistungen jüdischer Wissenschaftler, Künstler, Philosophen und Schriftsteller in Deutschland und Österreich aus dem Gedächtnis der Menschen zu löschen, betraf auch das Lebenswerk Lene Schneider-Kainers. Hier wurde es sogar besonders gründlich erreicht: Außer einigen privaten Sammlern und Liebhabern der Kunst der zwanziger Jahre kennt heute niemand mehr ihren Namen. Lene Schneider-Kainer wurde am 16. Mai 1885 als Tochter eines jüdischen Vaters und einer vormals katholischen, dann zum Judentum konvertierten Mutter geboren.

Ab 1909 ist Lene Schneider-Kainers Aufenthalt in Paris nachweisbar. Hier lernt sie ihren Mann, den Münchener Arzt, Maler, Graphiker, Plakatkünstler und Bühnendekorateur Ludwig Kainer kennen. Das Künstlerpaar heiratet am 23. Oktober 1910 in Ungarn, etwa ein Jahr später kommt der gemeinsame Sohn Peter zur Welt. Das Ehepaar Kainer gehörte seit 1911 zum Bekanntenkreis von Arnold Schönberg, Franz Werfel, Herwarth Walden und Else Lasker-Schüler. Um 1914/15 ließ sich die berühmte Dichterin aus Elberfeld von Lene Schneider-Kainer porträtieren.

1917 gibt Lene Schneider-Kainer mit einer großen Einzelpräsentation von ca. 50 Ölgemälden und Zeichnungen in der progressiven Galerie Gurlitt ein Debüt als Künstlerin, das die Berliner Kunstwelt aufhorchen läßt. Für ein noch größeres Aufsehen sorgt das Erscheinen des Buches "Die Hetärengespräche des Lukian". Eine Abbildung daraus repräsentiert die über 30 erotischen Illustrationen, mit denen Lene Schneider-Kainer den im 18. Jahrhundert von Christoph Martin Wieland übersetzten Text bebilderte. Der künstlerische Schwerpunkt Lene Schneider-Kainers liegt in den Jahren von 1919 bis 1922 jedoch auf der Anfertigung lithographischer erotischer Mappenwerke mit verheißungsvollen Titeln wie "Zehn weibliche Akte" oder "Vor dem Spiegel", die alle im Fritz Gurlitt-Verlag erscheinen.

1926 lässt sich Ludwig Kainer nach 16 Jahren Ehe von seiner Frau scheiden. Lene Schneider-Kainer verlässt daraufhin Berlin, um während einer Asienreise vom Dezember 1926 bis zum Juni 1928 als künstlerische Begleiterin des in dieser Zeit berühmten Dichters Bernhard Kellermann ihre Eindrücke malend, zeichnend und fotografierend festzuhalten. Der Schriftsteller und die Malerin reisen im Auftrag des "Berliner Tageblattes", das die Reportagen Kellermanns und die Aquarelle bzw. Fotos Lene Schneider-Kainers aus Persien, Indien, Tibet, Siam und China in regelmäßigen Reportagen dokumentiert. (Der von mir im Lichtig Verlag herausgegebene Kalender beinhaltet ein besonders schönes Ölgemälde, das Lene Schneider-Kainers Reisegefährten zeigt.) Zwischen 1929 und 1931 präsentiert Lene Schneider-Kainer eine Auswahl ihrer Werke aus Asien in Berlin, Magdeburg, Stuttgart, Kiel, London und Rom. Nach ihrer Emigration zeigt sie ihre Bilder mit ebenfalls großem Erfolg auf Mallorca, in Barcelona, Kopenhagen, New York und Philadelphia.

1954 entscheidet sie sich im Alter von 69 Jahren, ihre Autonomie in den USA aufzugeben und nach Cochabamba in Bolivien zu ziehen, wohin ihr Sohn Peter 1937/38 von Frankreich aus emigrierte und wo er jetzt mit seiner Familie lebt. Lene Schneider-Kainer hilft ihm beim Aufbau einer Stofffabrik, in der Textilien mit indianischen Mustern bedruckt und bis in die USA exportiert werden. Unter dem Namen ELENA entwickelt sie erste bebilderte Babybücher aus Plastik.
Am 15. Juni 1971 stirbt Lene Schneider-Kainer im Alter von 86 Jahren in Cochabamba.

Vergleiche: Einführungstext zum jüdischen Kalender 5759 von Sabine Dahmen und die Dissertation "Leben und Werk der jüdischen Künstlerin Lene Schneider-Kainer im Berlin der zwanziger Jahre" von Sabine Dahmen, 1999.

Zur Autorin/Herausgeberin: Nea Weissberg, Anfang der 50er Jahre geboren, lebt in Berlin. Seit 1990 veröffentlicht sie Beiträge zur jüdischen Gegenwart. Die seit 1992 im Lichtig Verlag erscheinende Reihe "Jüdischer literarischer Wandkalender" erinnert im jüdischen Jahr 5759 (1998/99) unter dem Titel "Ich bin eine rastlose Seele" an die österreichische Künstlerin Lene Schneider-Kainer und würdigt ihr facettenreiches Werk.


Sharon Adler,
AVIVA-Berlin, März 2015



Herausgegeben von Nea Weissberg
Lichtig-Verlag, Berlin 1998
ISBN: 3-929905-07-8
vergriffen


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